July 29, 2021

Entscheidungen

Mein Blick gleitet über die grünen Kacheln hin zu der Tür mit dem Bullauge in der Mitte, während ich, nur ein Krankenhaus-Hemd tragend, auf der Pritsche im Narkoseraum liege. Links über mir piepst der EKG-Monitor, ein Blutdruck-Messgerät pumpt alle zwei Minuten die Manschette um meinen linken Arm auf. Noch einmal überlege ich, ob die Entscheidung richtig war, ob ich nicht einfach aufstehen und die Sache abblasen soll. Meine Gedanken wandern einige Tage zurück, wieder sitze ich beim Urologen und schildere kurz und prägnant mein Problem.

"Schneiden wir ab" sagt der Onkel Doktor, Eurozeichen blitzen in seinen Augen auf.
"Äh..." meine ich, überrumpelt von der exzellenten Beratung.
"Ihre Entscheidung" entgegnet der Arzt und holt ein Formular aus seinem Schreibtisch hervor.
"Das unterschreiben Sie, Dienstag geht es los."
Ich schaue mir das Formular an, während der Arzt kurz aus dem Fenster schaut, sichtlich unter Zeitdruck.
"Da steht nur drin, dass sie einer OP zustimmen, verbunden mit den Risiken..."
"Äh...Risiken?" frage ich.
"…Nervenbahnen im Schaft, die eventuell durchtrennt werden könnten, Blutverlust oder Impotenz…"
"Äh..." setze ich an, doch der Arzt kennt seine Pappenheimer.
"Blah, das Übliche eben. Hier unterschreiben bitte."
"Meine Entscheidung?" frage ich. Ich muss fragen, denn ich habe das Gefühl, dass der Arzt jede Minute selbst unterschreibt.
"Ihre Entscheidung" hustet der Arzt und zückt einen goldenen Kugelschreiber.
Der Schreiber überzeugt, ich unterschreibe.

Wieder im Narkoseraum betrachte ich ein letztes Mal meinen Liebling in seiner natürlichen Gestalt. Fragend blickt er mich an, und eine innere Stimme sagt leise: "Das ist Deine Entscheidung."
Die Anästhesistin betritt den Raum, ein Formular und einen Plastik-Kugelschreiber in der Hand haltend.
"Hallo, ich bin die Narkoseärztin."
"Wären Sie gerne Urologin?" frage ich mit Blick auf den Kugelschreiber.
"Nein, alles Proleten," sagt sie. "Wollen wir mal schauen…Jaaa, also wir haben da zwei Möglichkeiten. Die Erste wäre eine örtliche Betäubung..."
"Die Zweite," rufe ich.
".. die Zweite wäre ein Schlafmittel und sie wachen dann nach der OP wieder auf."
"Nebeln Sie mich weg! Ich will niemanden an mir herumschnippeln sehen!"
"Ihre Entscheidung," sagt sie.
"Meine Entscheidung," bestätige ich und unterschreibe, so überzeugt von einer Entscheidung wie nur selten zuvor in meinem Leben.
Die Ärztin nimmt das Formular und setzt eine Kanüle.
"Das brennt jetzt kurz, dann schlafen sie ein."
Mein Arm brennt. Ein merkwürdiges Gefühl übermannt mich, ich muss nicht einmal bis 10 zählen, plötzlich bin ich weg.

Ich erwache in einem anderen Raum, orientierungslos schaue ich mich um. Neben mir liegen weitere Patienten, teils schlafend, teils weinend unter die Bettdecke blickend. Eine Schwester kommt.
"Oh, schon wach? Hat alles gut funktioniert, nach 20 Minuten war alles vorbei. Wie fühlen Sie sich?"
"Als ob mir jemand was weggeschnitten hätte... Wie lange habe ich geschlafen?"
"Zwei Stunden."
"Wann kann ich wieder..."
"In zwei bis drei Wochen," sagt die Schwester.
"... aufstehen", vollende ich den Satz.
"Oh. Ach so. Wenn der Doktor nach Ihnen geschaut hat. Bleiben sie noch ein wenig ruhig liegen, wir bringen sie dann hoch auf die Station."
Plötzlich habe ich das Verlangen nach meinem Liebling zu sehen. Ich spüre nichts. Ob das ein gutes Zeichen ist? Ob ich mal eben nachschaue?
"Deine Entscheidung, Kumpel" schnieft ein Leidensgenosse rechts neben mir, als ich langsam die Bettdecke hebe...

Lächelnd schaut mich eine junge Krankenschwester an, als sie mir die Kanüle entfernt.
„Gute Entscheidung!“
„Wie bitte?“
Noch immer lächelt sie geheimnisvoll und verlässt den Raum. Auf seltsame Art und Weise fühle ich mich in meiner Entscheidung bestätigt. Kurz überlege ich, ob ich denn nun zwei- oder drei Wochen warten werde…

...Aber das ist dann wieder meine Entscheidung.